Mutschi

Mutschi
Erzählung von Jakob Loewenberg

Es war einmal ein kleiner Junge, der hieß Mutschi. Der sagte immer: „Ich auch, ich auch!“ Wenn er durchs Fenster guckte und ein Reiter vorbeikam, rief er: „Ich will auch reiten!“ Wenn er im Garten spielte und ein Vöglein von dem Busch auf den Baum flog, klatschte er in die Hände: „Ich will auch fliegen!“ Und wenn er um den Teich spazierte, in dem die kleinen Fischchen schwammen, schrie er allemal: „Ich will auch schwimmen!“
Einmal war er ganz allein im Hause. Da stellte er sich vor die Tür und knallte mit seiner Peitsche: „Hopp, hopp!“ Da kam ein weißes Pferdchen dahergelaufen und hatte einen goldenen Sattel auf dem Rücken. Das Pferdchen blieb vor dem Jungen stehen, kniete mit den Vorderbeinen nieder und sagte: „Sitz auf, Mutsche!“ Da sprang der Junge auf seinen Rücken und rief: „Jetzt kann ich reiten; hurra! hopp, hopp!“ – und fort ging´s.
Draußen an der Hecke bei dem Felde stand sein Schwesterchen. „Wohin willst du, Mutschi?“ – „In die Welt, Annetti; willst du mit? Komm, hier ist noch Platz.“ – „Nein, ich bleibe lieber bei Vater und Mutter.“ – „Dann bleib du nur. Adjö!“ Er knalle mit der Peitsche, und das Pferdchen lief, was es laufen konnte.
Da lief es zuerst über eine große, große Wiese, dann über einen ganz hohen Berg und dann durch einen dichten, dunklen Wald Und als es aus dem herauskam, lief es durch schöne, grüne Felder, wo die roten und blauen Blumen wachsen, und dann kam wieder Wald, aber ein ganz kleiner. Die Bäumchen waren nicht höher als sonst das Gras; aber sie standen so dicht beisammen, daß man die Erde nicht sehen konnte. Das war die Heide. Und als die Bäumchen aufhörten, lag da ein hoher, breiter Sandwall. Das Pferdchen trabte hinauf, ein bißchen langsam; denn es war müde. Und als es endlich ganz oben war, da schaukelte sich an der andern Seite das Meer, das große, glänzende Meer.
„Jetzt kann ich nicht mehr weiter; jetzt mußt du absteigen“, sagte das Pferdchen. „Ich will aber noch weiter!“ schrie der Junge, „ich will!“ Hopsa, machte das Pferdchen, schlug die Hinterbeine in die Höhe, und bums! fiel der Junge hinunter und rollte den hohen Sandwall hinab und gerade ins Meer hinein.
Da kam ein goldroter Fisch geschwommen, mitten durch seine Füße hindurch. Der Junge reckte sich in die Höhe, hielt sich an der Rückenflosse fest und jauchzte; „So, nun kann ich wieder reiten!“ – „Schwimmen!“ gurgelte der Fisch. „Schwimmen“, schrie der Junge, „das ist noch besser!“
Und da schwammen sie durch das tiefe, weite Meer. Unten am Grunde guckten die kleinen Fischchen zu und tanzten vor Freude, als sie den Jungen schwimmen sahen, und oben über ihm flogen die Vögel hin und riefen einander zu: „Nun sieh doch mal, nun sieh doch mal! Das ist der Mutschi!“
Und wie er immer weiter schwamm, da kam ein Schiff daher. Und vorn auf dem Schiff stand der Vater und sah ganz böse aus und guckte überall umher und fragte immer: „Wo mag nur der Junge ein?“ Und als Mutschi das hörte, da sagte er zu dem Fisch: „Schnell, tauch unter! sonst sieht er micht!“
Da tauchte der Fisch unter, und sie kamen bis auf den Grund, wo die weißen Muscheln glänzten und die roten Seesterne leuchteten. Und Mutschi kriegte die Augen voll Wasser und wurde plitschnaß und schrie ärgerlich: „Ich will rauf, rauf, du dummes Wassertier!“ Da ging der Fisch in die Höhe.
Und gerade, als Mutschi aus dem Wasser tauchte, flog ein großer, weiß und schwarzer Vogel daher, packte den Jungen mit seinem Schnabel, spannte die Fittiche recht weit aus, warf ihn auf den Rücken und flog mit ihm hoch in die Luft. „Jetzt habe ich Flügel, jetzt kann ich fliegen“, rief Mutschi, „juchhei, nun bin ich ein Kerl!“
Und der Vogel flog immer höher, und die Sonne sank immer tiefer, und zuletzt ging sie unter. Da schwebte eine Frau in langen, schwarzen Kleidern an ihnen vorbei. Das war die Nacht, die wollte nach der Erde hin. Aber sie flogen noch immer höher bis zu dem Mond un zu den kleinen Sternen.
„Guten Abend, Mutschi; wo kommst du denn her?“ fragten die kleinen Sterne. „Es ist schon spät; du solltest schon längst schlafen.“ – „Ich will aber nicht schlafen; ich will fliegen, immer höher, bis in den Himmel, bis ich sehen kann, wie die Sonne an der andern Seite wieder rauskommt.“ Da lachten die Sterne, und der Vogel sagte: „Bis in den Himmel, Junge, das kann ich auch nicht; dann flieg du nur lieber mit der Wolke!“ – „Dann will ich auch mit der Wolke fliegen; heda, rasch!“
Und da kam eine große, schwarze Wolke und nahm den Jungen in ihren Arm, ganz sacht, ganz weich. Und wie sie dahinflogen, wa war es ihm auf einmal, als ob ein paar Tropfen auf seine Backe fielen, große, heiße Tropfen.
„Das fühlt sich gerade an wie Tränen von meiner Mutter“, sagte Mutschi traurig. „Ja, Junge“, sagte die Wolke, „das sind auch Tränen von deiner Mutter. Ich kam gerade vorbei, als sie weinte; da hab ich sie mitgenommen. Wisch sie ab; wir kommen bald in den Himmel, und da mußt du ein reines Gesicht haben!“
Da fing der kleine Junge an zu weinen und schluchzte: „Ich will gar nicht in den Himmel; ich will auch die Sonne nicht sehen. Ich will nur nach Hause; zu meiner Mutter will ich!“
Und sobald er das gesagt hatte, da ging die Wolke immer tiefer, ganz schnell, und bums! da lag der Junge unter einem dichten Haselbusch im Garten.
Und vor dem Busch stand die Mutter und bog die Zweige auseinander und rief ganz glücklich: „Da ist er, da ist er ja; da ist unser Mutschi!“
Und die Sonne ging gerade auf und guckte über die Hecke und lachte mit dem ganzen Gesicht.

(Quelle: Vor den Toren, Lesebuch für Rheinland-Pfalz, August Bagel Verlag Düsseldorf, 1952)


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