Mutter bekommt kein Geld

Mutter bekommt kein Geld
Erzählung von Wilhelm Raabe.

Auf der Straße begegnete mir frühmorgens oft ein munterer, fröhlicher Knabe. Er trug für einen Bäcker die Semmeln aus. Eines Tages ließ ich mich in ein Gespräch mit ihm ein. „Mit dem Austragen“, sagte der Knabe mit leuchtenden Augen, „verdiene ich schon ein gut Stück Geld. Meiner Vater, der in einer großen Tischlerei arbeitet, verdient freilich viel mehr.“ – „Und was tut denn deine Mutter den ganzen Tag?“ fragte ich.
„Mutter“, sagte er, „die steht morgens als die erste von uns auf und weckt mich, damit ich pünktlich wegkomme. Dann weckt sie meine Geschwister, die zur Schule müssen, und gibt ihnen ihr Frühstück. Sind sie fort, so wird Vaters Tasche zurechtgemacht und sein Frühstück hineingepackt. Unterdes ist die kleine Luise aufgewacht, die erst zwei Jahre alt ist. Mutter muß sie waschen und anziehen. Dann macht Mutter die Betten, räumt auf und kocht Mittagbrot. Und so geht es den ganzen Tag fort.“
„Wieviel verdienst du denn?“ fragte ich weiter.
„Na – so ungefähr zehn Mark.“
„Und der Vater, wieviel bekommt der?“
„Hundert Mark den Monat.“
„Und was bekommt die Mutter für ihre Arbeit?“ fragte ich zuletzt.
Da sah mich der Knabe groß an und fing an zu lachen. „Die Mutter“, sagte er, „arbeitet doch nicht für Geld. Die arbeitet doch nur für uns den ganzen Tag!“

entnommen:
Vor den Toren, Lesebuch für Rheinland-Pfalz, August Bagel Verlag Düsseldorf, 1952


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