Tief im Schlosse des Kyffhäusers – Gedicht von Emanuel Geibel
1. Tief im Schlosse des Kyffhäusers
Bei der Ampel rotem Schein
Sitzt der alte Kaiser Friedrich
An dem Tisch von Marmorstein.
2. Ihn umwallt der Purpurmantel,
Ihn umfängt der Rüstung Pracht,
Doch auf seinen Augenwimpern
Liegt des Schlafes tiefe Nacht.
3. Vorgesunken ruht das Antlitz,
Dem sich Ernst und Milde paart,
Durch den Marmortisch gewachsen
Ist sein langer, goldner Bart,
4. Rings, wie eh’rne Bilder, stehen
Seine Ritter um ihn her,
Harnischglänzend, schwertgerüstet,
Aber tief im Schlaf, wie er.
5. Alles schweigt, nur hin und wieder
Fallt ein Tropfen vom Gestein,
Bis der große Morgen plötzlich
Bricht mit Feuersglut herein;
6. Bis der Adler stolzen Fluges
Um des Berges Gipfel zieht,
Daß vor seines Fittigs Rauschen
Dort der Rabenschwarm enflieht.
7. Aber dann wie ferner Donner
Rollt es durch den Berg herauf,
Und der Kaiser greift zum Schwerte
Und die Ritter wachen auf.
8. Laut in seinen Angeln tönend,
Springet auf das eh’rne Thor,
Barbarossa mit den Seinen
Steigt im Waffenschmuck empor.
9. Auf dem Helm trägt er die Krone
Und den Sieg in seiner Hand,
Schwerter blitzen, Harfen klingen,
Wo er schreitet durch das Land.
10. Und dem alten Kaiser beugen
Sich die Völker allzugleich,
Und auf’s neu zu Aachen gründet
Er das heil’ge deutsche Reich
Quelle: Deutscher Sagenschatz, herausgegeben von Dr. J. W. Otto Richter, Verlag von Otto Mähnert, Eisleben, 1877