Unglück der Stadt Leiden – Johann Peter Hebel

Unglück der Stadt Leiden – Erzählung von Johann Peter Hebel.

Diese Stadt heißt schon seit undenklichen Zeiten Leiden und hat noch nie gewußt, warum, bis am 12. Januar des Jahres 1807. Sie liegt am Rhein in dem Königreich Holland und hatte vor diesem Tag elftausend Häuser, welche von 40,000 Menschen bewohnt waren, und war nach Amsterdam wohl die größte Stadt im ganzen Königreich. Man stand an diesem Morgen noch auf, wie alle Tage; der eine betete sein: „Das walte Gott,“ der andere ließ es sein, und niemand dachte daran, wie es am Abend aussehen wird, obgleich ein Schiff mit siebzig Fässern voll Pulver in der Stadt war. Man aß zu Mittag und ließ sich’s schmecken, wie alle Tage, ob gleich das Schiff noch immer da war. Als aber nachmittags der Zeiger auf dem großen Turm auf halb fünf stand — fleißige Leute saßen daheim und arbeiteten; fromme Mütter wiegten ihre Kleinen, Kaufleute gingen ihren Geschäften nach; müßige Leute hatten Langeweile und saßen im Wirtshaus beim Kartenspiel und Weinkrug; ein Bekümmerter sorgte für den andern Morgen, was er essen, was er trinken, womit er sich kleiden werde, und ein Dieb steckte vielleicht gerade einen falschen Schlüssel in eine fremde Türe, — und plötzlich geschah ein Knall. Das Schiff mit seinen siebzig Fässern Pulver bekam Feuer, sprang in die Luft, und in einem Augenblick (ihr könnt’s nicht so geschwind lesen, als es geschah) in einem Augenblick waren ganze lange Gassen voll Häuser mit allem, was darin wohnte und lebte, zerschmettert und in einen Steinhaufen zusammengestürzt oder entsetzlich beschädigt. Viele hundert Menschen wurden lebendig und tot unter diesen Trümmern begraben oder schwer verwundet. Drei Schulhäuser gingen mit allen Kindern, die darin waren, zu Grunde, Menschen und Tiere, welche in der Nähe des Unglücks auf der Straße waren, wurden von der Gewalt des Pulvers in die Luft geschleudert und kamen in einem kläglichen Zustand wieder auf die Erde. Zum Unglück brach auch noch eine Feuersbrunst aus, die bald an allen Orten wütete, und konnte fast nimmer gelöscht werden, weil viele Vorratshäuser voll Öl und Tran mit ergriffen wurden. Achthundert der schönsten Häuser stürzten ein oder mußten niedergerissen werden. Da sah man auch, wie es am Abend leicht anders werden kann, als es am frühen Morgen war, nicht nur mit einem schwachen Menschen, sondern auch mit einer großen und volkreichen Stadt. Der König von Holland setzte so gleich ein namhaftes Geschenk auf jeden Menschen, der noch lebendig gerettet werden konnte. Auch die Toten, die aus dem Schutt hervorgegraben wurden, wurden auf das Rathaus gebracht, damit sie von den Ihrigen zu einem ehrlichen Begräbnis konnten abgeholt werden. Viele Hilfe wurde geleistet. Obgleich Krieg zwischen England und Holland war, so kamen doch von London ganze Schiffe voll Hilfsmittel und große Geldsummen für die Unglücklichen, und das ist schön — denn der Krieg soll nie ins Herz der Menschen kommen. Es ist schlimm genug, wenn er außen vor allen Toren und vor allen Seehäfen donnert.


(Quelle: Schätzkästlein des Rheinischen Hausfreundes, American Book Company, 1913)