Der Kirschzweig – eine Erzählung von Peter Rosegger
Meine Eltern waren mit und Kindern überaus milde und nachsichtig; aber ihren vollsten Zorn ließen sie uns fühlen, wenn sie uns auf irgendeiner Unwahrheit ertappt hatten. Nun kam ich einmal ein einem Sommertag mit einem üppig mit schwarzen Kirschen beladenen Zweig nach Hause. Ich hatte ihn ihm Hintergarten des Nachbarns heimlich vom Baum gebrochen. Meine Mutter fragte mich sofort, woher ich den Kirschzweig hätte. Ich antwortete im ersten Schreck: „Von unserm Baum.“
Kaum war das erste Wort heraus, so fiel mir ein, daß unser Baum keine schwarzen Kirschen trage, sondern rote. Ich war auf Herbes gefaßt; aber meine Mutter schwieg. Sie schwieg und ging hinaus in die Futterkammer; ich schlich ihr nach und fand sie bitterlich weinen.
So weint eine Mutter, deren liebsten Sohn man in den Kerker führt. Mir gingen die Augen auf – mir gingen sie über. Auf meinen Lippen die Unwahrheit, in meiner Hand fremdes Gut! Ich fiel vor meiner Mutter auf die Knie, gestand alles und flehte um Verzeihung.
„Steh auf“, sagte sie, „trag den Kirschbaumzweig zum Nachbarn und sag ihm, was du getan hast!“ Ich tat´s, der Nachbar lachte und meinte: „Wegen einer Handvoll Kirschen da! Sie sind dir wohl vergönnt; sie werden mir von dem Baum da unten immer gestohlen.
Das war mir gerade genug; da hatte der Mann einen Kirschbaum für Diebe. Ich hatte genug für mein Leben lang.
Quelle: Der Kirschzweig:
Vor den Toren, Lesebuch für Rheinland-Pfalz, August Bagel Verlag Düsseldorf, 1952