Der schlaue Pilgrim

Der schlaue Pilgrim ist eine Erzählung von Johann Peter Hebel.

Vor einigen Jahren zog ein Müßiggänger durch das Land, der sich für einen frommen Pilgrim ausgab, gab vor, er komme von Paderborn und laufe geradewegs zum heiligen Grab nach Jerusalem, fragte schon in Müllheim an der Post: „Wie weit ist es noch Jerusalem?“ Und wenn man ihm sagte: „Siebenhundert Stunden; aber auf dem Fußweg über Mauchen ist es eine Viertelstunde näher, so ging er, um auf dem langen Weg eine Viertelstunde zu ersparen, über Mauchen. Das wäre nun so übel nicht. Man muß einen kleinen Vorteil nicht verachten, sonst kommt man zu keinem großen. Man hat öfter Gelegenheit, einen Batzen zu ersparen oder zu gewinnen, als einen Gulden. Aber 15 Batzen sind auch ein Gulden, und wer auf einem Wege von 700 Stunden nur allemal an 5 Stunden weiß eine Viertelstunde abzukürzen, der hat an der ganzen Reise gewonnen – wer rechnet aus, wieviel?

Allein unser verkleideter Pilgrim dachte nicht ebenso, sondern weil er nur dem Müßiggang und gutem Essen nachzog, so war es ihm einerlei, wo er war. Ein Bettler kann nach dem alten Sprichwort nie verirren, muss in ein schlechtes Dorf kommen, wenn er nicht mehr darin bekommt, als er unterwegs an den Sohlen zerreißt, wenn er barfuß geht.

Unser Pilgrim aber dachte doch immer darauf, so bald als möglich wieder an die Landstraße zu kommen, wo reiche Häuser stehen und gut gekocht wird. Denn der Halunke war nicht zufrieden, wie ein rechter Pilgrim sein soll, mit gemeiner Nahrung, die ihm von einer mitleidigen und frommen Hand gereicht wurde, sondern wollte nichts fressen als nahrhafte Kieselstein-Suppen. Wenn er nämlich irgendwo so ein braves Wirtshaus an der Straße sehen sah, wie zum Exempel das Posthaus in Krotzingen oder den Baselstab in Schlingen, so ging er hinein und bat ganz demütig und hungrig um ein gutes Wasser-Süpplein von Kieselstein um Gottes willen, Geld habe er keines. – Wenn nun die mitleidige Wirtin zu ihm sagte: „Frommer Pilgram, die Kieselsteine könnten Euch hart im Magen liegen!, so sagte er: „Eben deswegen! Die Kieselsteine halten länger an als Brot, und der Weg nach Jerusalem ist weit. Wenn Ihr mir aber ein Gläslein Wein dazu bescheren wollt, um Gottes willen, so könnt ich´s freilich besser verdauen.“ Wenn aber die Wirtin sagte: „Aber, frommer Pilgram, eine olche Suppe kann Euch doch unmöglich Kraft geben!“ so antwortete er: „Ei, wenn Ihr anstatt des Wassers wolltet Fleischbrühe dazu nehmen, so wär´s freilich nahrhafter.“ Brachte nun die Wirtin eine solche Suppe und sagte: „Die Tünklein sind doch nicht so gar weich geworden“, so sagte er: „Ja, und die Brühe sieht gar dünn aus. Hätter Ihr nicht ein paar Gabeln voll Gemüs darein oder ein Stücklein Fleisch oder beides?“ Wenn ihm nun die mitleidigige Wirtin auch noch Gemüs und Fleisch in die Schüssel legte, so sagt er: „Vergelts Euch Gott! Gebt mir jetzt Brot, so will ich die Suppe essen.“

Hierauf streifte er die Ärmel seines Pilgergewandes zurück, setzte sich und griff an des Werk mit Freuden, und wenn er Brot und Wein und Fleisch und Gemüs und die Fleischbrühe aufgezehrt hatte bis auf den letzten Brosamen, Faser und Tropfen, sie wischte er den Mund am Tischtuch oder an dem Ärmel ab, oder auch gar nicht, und sagte: Frau Wirtin, Eure Suppe hat mich rechtschaffen gesättigt, so dass ich die schönen Kieselsteine nicht einmal mehr zwingen kann. Es ist schade dafür! Aber hebt sie auf. Wenn ich wiederkomme, so will ich Euch eine heilige Muschel mitbringen ab dem Meeresstrand von Ascalon oder eine Rose von Jericho!“

(Quelle: Kalendergeschichten, Harenberg Kommunikation, Dortmund, 1984)