Patria – Kapitel 7 – [Online – lesen]

Patria – Kapitel 7

Am dritten Tag klopfte es an das Pförtlein des hinteren Karzers, wo man die ganz schweren Sünder einriegelt. Emmet stierte rücklings auf seinem Laubsack in den feinen Mauerschlitz hoch ober in der Wölbung, von da fiel ein so dünner Glimmer vom Himmel herein, dass Robert nicht wußte, ob es Mittag oder Dämmerung oder Nacht sei. Brot und Hirsebrei lagen unberührt neben ihm.
Ein schüchternes Wesen trat ein, verschleiert und die Laterne des Schließers in der Hand. Am anderen Arm trug es einen großen Henkelkorb. Nun wandte es sich rasch in den Gang hinaus und sagte: „Wartet ihr ein Weilchen!“
Darauf schloß es die Tür von innen und rief, das Schleiertüchlein wegblasend:
„Roby!“
Emmet schnellt entzückt in die Höhe.
„Mein Sommervogel, sieh da, mein Täubchen!“
sprach er mit einer vom vielen kalten Wassertrinken heiseren Stimme. Dann wärmte er ihre beiden Hande flach an seiner Brust, setzte sie auf die Decke, kniete vor sie hin und bat:
„Erzähle mir, ob die Sonne noch lebt und unser lieber Lissen noch ins Meer rinnt und es in den Straßen da draußen noch Menschen hat! – Das alles fange ich an in dieser Eintönigkeit hier bald nicht mehr zu glauben. Nur dass du noch lebst und dass du zu mir kommen würdest, wußte ich todsicher, du Liebe.“
Und mit ritterlicher Ehrerbietigkeit gab er ihr einen Kuß aufs nebelfeuchte Stirnchen.
„Siehst du wohl, dich hat Irland zu mir geshcickt. Du bist ja so ein allergrünstes Läubchen von seinem schönen, großen Baum.“
„Und du wirst hier im Dunkeln bald ein Dichter wie Tom!“ versuchte sie zu scherzen.
„Schweig mir von Tom! Er ist doch nur, wenn er dichtet, Patriot!“ zürnte Emmet. „Nein, verduftet ist er, als man Fitzherber abfaßte.“ – Es dampfte förmlich zwischen Robys gesperrten, spitzen Zähnen hervor. Blaue, zornige Räuchlein stiegen in die kalte, nasse Karzerluft empor.
Aber das Mägdlein erschrak nicht, sondern lächelte vielmehr und meinte: „Roby, ich bin nicht gekommen, um mit dir wegen Tom zu zanken. Sondern dich bewirten will ich, Herrchen!“ – Und gleich kramte sie einen rosinengespickten Kuchen, kalten, braungerösteten Rehbraten, Zucker, Zitronen und einen Krug Himbeersaft aus. Dann zog sie einen großen silbernen Becher hervor, in dem sie ihm nun ein himmlisches Gebräu mischen wollte, und legte schneeweiße Tüchlein vor ihn hin, setzte mit süßem Geklingel ein Porzellantellcerchen ums andere darauf und ermunterte ihn jetzt, indem sie ein Messerchen und eine Gabel von getriebenem Gold vor ihm senkte, kräftig zuzulangen und wie ein Held zu schmausen.
Doch Emmet sog nur ein Schlücklein und aß ein Schnittchen vom Gebäck, ihr zu lieb. Dann schlang er seine Arme um sie und sagte, das Stündlein sei ihm zu köstlich zum Essen. Jetzt wollen sie lieber sich gehörig ausplaudern.
Er berichtete, was er in den drei einsamen Tagen getan. „Es ist zu finster zum Lesen und Schreiben. Da las ich in meiner Seele und schrieb es in meinem treuen Kopfe fest. Nichts als große Reden an die Nation! Jetzt bin ich bei der vierten Rede. Drei hab´ ich schon fertig. O meine kleine Amsel, diese Reden werden Irland tanzen und England knien mchen. O, ich will reden! Und du mußt ann am Rathausfensterchen stehen und zuhören. Und wenn ich den Mut verlieren sollte, weil überall die Polizei mit ihren Säbeln mir zublitzt und weil Tom davonläuft und mir dieser Mensch von Schiefer, dieser Philister Dan aus dem Haufen verstohlen zuwinkt, doch vorsichtiger zu sein und das Wort Tyrann und Revolution nicht zu brauchen, man fange und töte mich sonst, – dann schau ich nur zum kleinen Fenster hinauf wie zum grünsten Zweig des irländischen Baumes, und sehe dich mit frohen, stolzen, roten Wangen winken und loben und werde noch mutiger und rede noch glühender und überwältige alle und flieg! O Sara, das wird geschehen! Auswendig kann ich drei solcher Reden. Soll ich dir eine halten? sag!“
„Nein, Roby, von dir allein wollen wir reden!“ bat Sara fest. „Deine großen Reden werde ich alle doch einmal hören. Aber das merke dir: wenn du sie hälst, sitze ich nicht hoch oben an einem verstohlenen Fenster, sondern ich stehe neben dir und spreche deine Worte nach. Jetzt aber, mein so kluger Herr, höre einmal auf eine Frauenpredigt! Mein Vater ist zornig über dich. Er hat der Mutter einen bösen Tag gemacht. Nicht mehr ins Haus sollst du kommen. Du tuest wie ein Verderber, nicht wie ein Retter, sagt er. Er wies auf unsern Gasst, den, den – wie sagtest du doch eben, den Mann von Schiefer?“ – sie klingelte ein Lächeln hervor, um die ernste Sache zu vergolden, – „welche Spitznamen du erfindest!“
„Kind, was sagte dein Vater?“
„Dan sei der Rechte! – Zuerst müsse man ein reifer Mann werden. Dann erst könne man Männer leiten.“
„Mann werden!“ toste Emmet auf. „Sag doch lieber: grau werden! Haben denn Greise die Welt erlöst? War David nicht ein Jüngling? Und Daniel ein Knabe? Und schon singen sie an zu regieren. Und Alexander war nicht so alt wie ich, und Hannibal mit sechzehn Jahren der größte General. O, Helden! – Und was sagt dein Vater von Bonaparte da drüben, der kaum aus den Schülerhofen geschlüpft ist und schon solchen Riesenspektakel in der Welt macht?“ –
„Still, still; von dem kein Wort! Das erträgt Vater schon gar nicht!“
„Und die großen Könige auf diesen drei Inseln waren doch alles Jünglinge: Alfred, Eduard und vor ihnen der herrliche Ethelreth. Und erst dreiunddreißigjährig hatte der Christus, den du anbetest, schon sein Weltwerk rund und reif in Ordnung gebracht. Gewiß hätte dein Vater auch da gesagt: Laßt ihn noch Dutzend Jährchen beim Zimmermann, er ist mir noch viel zu jung! – Ja, so meint es der Vater – sei mir darum nicht böse! – er will sagen: Tretet zuerst, ihr kleinen, wilden Erlöser, in ein Schreiberbureau, und dann werdet zuerst noch bequeme Familienväter, behutsame Geldverdiener, werdet recht langsam, rund und fett und altklug und ledern und haltet eure Mittagschläfchen! – Dann, ja dann, wenn es euch noch immer zwickt, dann macht eben Revolution! Ich danke schön! Irland wird nie frei, wenn nicht die Jungen es frei machen. Ich habe in meiner ersten Rede die ganze Weltgeschichte danach durchblättert, ob je einem ein Philister den kleinsten Fetzen Erde erlöst hat. Ich fand keinen, keinen!“
„Ich verstehe das nicht, Roby; ich glaube dir! sagte das Mädchen innig. Unter dem Sturm seiner Rede hatte es sich immer sanft dreinmischen und den Wilden beruhigen wollen. Aber der kleine König war in seinem Feuer so golden zu schauen, dass sie lieber schwieg, um so ein geliebtes prächtiges Bild nicht zu zerstören.
Nun stammelte sie doch schüchtern: „Aber wenn du den Beruf hast, unser Vaterland zu erlösen -“
„Ich hab´ ihn Kind!“ – Er schimmerte sie wie ein Messias an.
„Dann muß ich aber doch sagen, dass du nicht schon jetzt – wie heißt man das? – ach ja -, vom Leder ziehen kannst!“
„Sara, das Wort ist nicht von dir!“
„Aber es ist wahr, das fühl´ ich. Du mußt dich in Ruhe vorbereiten. Der größte Heimatbefreier hat doch auch dreißig Jahre gebraucht zu stillen Vorbereitung, bevo den Feldzug wagte. Aber dann hat er ihn in drei Jahren schon gründlich vollendet.“
„Wer ist das? Ich verstehe nicht“, sagte Emmet, dem der Vergleich mit Christus nun nicht mehr behagte.
„Das ist Jesus“, bekannte das fromme Mädchen laut, „Der Gott am Kreuze, der die Arme noch im Tode so weit ausspannt, als sagte er: Kinder, ihr hättet es immer noch eng auf Erden; aber nun habe ich euch so weiten, seht, so weiten Platz gemacht!“
„Ach, diese alte Geschichte! – Geschichte? nein, diese schöne Sage!“ murmelte Robert unwillig, weil ihn die Sache doch rührte.
Da pochte es an der Türe.
„Ach, jetzt soll ich schon wieder gehen! Hör, Roby, warum ich eigentlich gekommen bin. Ich wollte dir etwas Schönes sagen. Rat einmal! Ach, daran denkst du gar nicht in deinen großen Generalgedanken. Drum muß ich dir´s sagen: Ich bleib´ dir immer treu, auch wenn sie dich mit Schimpf aus dem College jagen und mein Vater dich nicht mhr sehen will. Das ist eines. Und nun noch etwas Schneres: So zäh, wie ich im Liebhaben bin, so zäh bin ich im Beten! O, ich höre nicht auf zu lieben und zu beten, dass du noch einmal ein ganzer Irländer werdest!“
„Was?“ donnerte Emmet böse auf, „ich denke, ich bin ein ganzer Ire, so ganz wie keiner auf dem Dubliner Pflaster! Alle haben Löcher in ihrem Nationalkleid. Ich nicht!“
„Nein, du Lieber und Schöner, du bist doch nur ein halber! Zu einem ganzen Iren braucht es einen Kelten und einen Christen! Das zusammen heiße erst Irländer, sagte Dan.“
„Sara“, schrie Robert, „wenn du mich lieb hast, so sprich kein Wort mehr von O´Connell. Hörst du! – ich will es! – ich litte dreimal mehr hier im Dunkel, wenn ich darin nicht sicher sein dürfte.“
„Sei nur sicher, er schwimmt schon auf dem Meer und läßt dir noch viele Grüße sagen, und dass er so tapfer fechten wolle wie du, nur anders!“
„Wir wollen sehen, wer es besser macht“, sprach Emmet erleichtert.
Nun klopfte man ungeduldiger, mit einem harten und mit einem ganz weichen Knöchel.
„Da klopfen zwei“, rief Robert aufspringend.
„Ja, lieber Roby, du hast es hier langweilig; du brauchst einen Kameraden“, versetzte Sara hastig und ließ – Harry Goes zur Türe herein. Der sprang mit ausgebreiteten dicken Armen auf Emmet zu, fiel vor ihm hin und umschlang seine Knie und weinte und lachte und bat: „Laß mich hier, laß mich hier! Die Frauen daheim haben es mir erlaubt.“
Robert riß den Mund auseinander und sah mit Spott das krause Studentlein und Vetterchen an.
„Ach, was sollen wir denn in diesem Loch mitsammen machen?“ fragte er zuletzt ärgerlich. – „Nein, sieh, ich kann dich wirklich nicht brauchen. Mir ist am besten allein. Geh! – Du störst mich, wenn ich mir Irlnd rede. Nein, nein, nein, geh!“
Aber Goes ließ sich nicht abschütteln. Fest klebte er an Robert. „Wenn ich nur hier sein darf. Du weißt doch, Vetter, ich hab´ dich so gern. Es ist schön, mit dir zu leiden!“ – rührend flüsterte er das und verkroch sich immer tiefer zwischen Brust und Ärmel des Freundes, dieser seltsame, reiche und doch so arme Waffenknabe, der in seinem stolzen Palast a Howth nichts als drei schwere Tanten um sich hatte.
„Bleib also“, gestattete Robert lässig und strich ihm das Haar aus der Stirne.
Da erhaschte der Kleine diese verehrte Hand und bedeckte sie mit schnellen Küssen wie ein Hündchen.
Als dann Sara wie ein Sonnenstrahl aus dem Verließ entwichen war, vergrübelte sich Emmet wieder in sein altes, hartes Schweigen. Das Bild des ausgespannten Mannes quälte ihn. Es stieg an der schwarzen Wand auf bis in die Wölbungen. Aber die Arme wuchsen wie die Äste eines Riesenbaumes hier über Irland, dort über England hinaus, wuchsen über die ganze Erde und über die Millionen Erden mit Geschöpfen, die es vielleicht im blitzenden Weltall noch gibt, hinweg, umfingen das All, das unermeßliche und drückten es ans Herz. Und immer hieß es: So weit, so weit habe ich euch das Leben gemacht!
Ach, Torheit, es steht doch auf keinem Papier aus jenen Tagen, ist nicht einmal auf einem jüdischen Stein gekritzelt!
Aber freilich, Saras Herz ist mehr als ein noch so altes, siegelreiches Papier und mehr als ein Stein aus der Stadt Jerusalem. O Sara, glückliche Sara, wie du glauben kannst!
Er hat es nie gekonnt, nicht einmal als ein wachsweiches Kind. Der Vater verlachte, die schwache, zaghafte Mutter versteckte den Glauben. Neben den feigen, fast abergläubischen Heimlichkeiten der Mutter kam der Knirps der leichte, goldige Erdenhumor des Vaters, der nur, was wog und roch und schmeckte, gelten ließ, großartig vor. Nicht die Bibel, sondern die Römergeschichte mußte der Fant studieren. Und da lernte er das Triumphieren so hoch über das Leiden und das freche Aufstehen so hoch über das gedulige Liegenbleiben stellen, dass ihm später auch die Geschichte vom König der Erniedrigung und Dornen nicht mehr recht imponierte. Weit lieber wollte Emmet einer der Gracchen als einer der Apostel sein.
Dann folgte die Schule in Dublin mit ihren scheinheiligen Lehrern; es folgten die herumgeschmuggelten Büchlein von Rousseau und Voltaire und Diberot, und Schlag auf Schlag kam die große Erlösung in Frankreich, und all das vollendete den Freigeist. Und immer fragte er sich dazwischen, was den Iren ihre dicke katholische Religion wohl bis jetzt genützt habe. Träge und stumpf und arm seien sie geworden, unfähig, die englische Stricke je zu zerreißen aus eigener Macht. Aber wenn Irland freigeistig wäre, o dann hätte es eine Bluttaufe und Befreiung erlebt wie Frankreich. Denn, sagte sich Emmet in der goldigen Verblendung aller jungen Freiheitswildlinge: in Frankreich lebt jetzt jeder Bürger wie ein Herrgott.
Aber wie, da kommt doch einer, die diese vielen Herrgöttlein über den Haufen wirft, der allein so ein irdischer Herrgott sein will, Herrgott Napoleon! Schon munkelt man von ihm, wie einst von Cäsar, dass er einmal befreie, um zweimal zu knechten. Ach, das sagen die Geprügelten. Emmet glaubt an Napoleon wie an den Bringer aller Erdenfreiheit.
Aber es heißt, Napoleon wolle den Glauben wieder ins Vernunftreich Frankreich einführen, er habe schon mit der römischen Kirche unterhandelt, er gebe zu, dass man ohne Glauben mit den Völkern nichts anfangen könne. Sollte das wahr sein? Also auch dieser Riese geht in die ausgespannten Arme, gerade wie das alte Irland, wie O`Connell, wie Sara. Ist´s denn so schön, so sicher dort? Ach, wenn man´s glauben könnte! –
Unverhofft fühlt der kleine Goes, der zufrieden unten am Laubsack kauert, Emmets straffe Hand in seinem unendlichen Haarschopf, und er hört ihn beinahe bitten:
„Vetter Harry, sag einmal: Glaubst du auch an Christus, den Erlöser? – Sag, Kleiner!“
Der nickte mit seinem unbändigen Wirbel in großer Bestimmtheit. „An Christus? – Natürlich! – das muß man doch! da gibt es doch gar nicht anderes! – Du meinst doch unsern Heiland! das Christkind! den feinen Gottesknaben im Tempel! den Bergprediger! der Lazarus erweckt hat! den, der da – so prächtig, ah, so prächtig gestorben ist, siehst du, so -“
Und wahrhaft, der Kleine spannte seine Arme aus, so weit er konnte, und neigte das schwere Krauselhaupt zur Seite und hob seine großen, hellen Kinderaugen gen Himmel, ganz so, wie er in der letzten Karwoche einmal bei einem Passionsspiel von Kindern diese heilige Rolle gegeben hatte.
Er lieb in dieser schwierigen, peinlichen, seligen Haltung, immer die Kinderaugen nach oben, und immer die Arme straff in die Weite gereckt und die Kirschenlippen stumm aufeinander, als müßte er warten, bis der Tod käme.
„Genug!“ dankte Emmet erschüttert.
„Es ist vollbracht!“ hauchte der Kleine schwer, und seine Augen wurden feucht. So innerlich hatte Harry sein schönes Stück gespielt!
„O du köstliches, reiches Menschlein du!“ sagte Roby und schmiegte sich an ihn, wie an einen Großen und Mächtigen. „Wenn du mir doch davon verkaufen könntest!“
„Von was, mein König?“
„Von deinem Gott und Gottesglauben!“

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