Patria – Kapitel 9
Als sie aus dem Kahn stiegen, stieß Lesby Cor mit dem Schuh an etwas Gläsernes.
„Beim heiligen Patrick, ein Wunder ist geschehen“, rief er mit erheblichem Staunen. „Sieben Irländer haben drei Flaschen Sherry auf die Fahrt genommen und ungebrochen heimgebracht!“
„Laßt sie dem Schiffer!“ rief einer, „so ist das Wunder vollständig.“
„Nein“, sagte der steife Brown und packte sie unter dem Mantel ein. „Wir wollen Irland heut abend wenigstens von einem seiner hunderttausend Räusche retten, kommt!“
„Und sie ihn dem Engländer anhängen!“ spann einer fort.
„Kommt!“ schrie der ältere Corbet, „ich weiß etwas! Folgt mir!“
Er ging ihnen voran hinter den Turm des College, wo der Karzer hinter den dicksten Mauern lag. Da stellten sie sich im Schatten auf, und O`Nelly, der Tenor, fragte:
„Was für ein Lied singen wir Emmet?“
„Unser Eichelbubenlied!“ riet Lesby.
„Nein“, baten die andern. „Da hälfe Dan wahrlich nicht mitsingen.“
„Gott schirm den König!“ schlug der jünge Corbet vor.
„Nein“, hieß es wieder, „da hälfe Roby nicht mit.“
„Ich weiß was“, sprach nun O´Nelly feierlich, „O Gott, von deinen Himmeln hoch!“
„Das, ja, das!“
Und durch den Nebel und die feuchte, träumerische Winternacht Dublins scholl jetzt ein Lied, frömmer, als man es je in einer irischen Kirche gehört hat.
Während der ersten Strophe tauchten schon hinter dem alten Bau englische Wachsoldaten auf. Sie wollten Ruhe heischen und das trotzige Völklein auseinanderjagen. Aber da merkten sie, dass es ein Kirchenlied war, gesungen im Westminster und in der Bischofskathedrale Dublins, vor König und Kanzler. Kann man das verbieten? Man ließ den Säbel im Gurt, trat ein wenig zurück und horchte zu, und Kensens, der jüngste der Gardisten, dessen Mutter eine Irin war und ihn mit solchen Gängen großgezogen hatte, summte sogar leise mit.
Doch wie die Strophe fertig war, winkte der Offizier Ralf Freesh heftig mit dem Degen: es sei genug! Man wisse schon sie sängen da nicht dem großen Gott in der Höhe, sondern ihrem kleinen Gott da unten in der Tiefe.
Da hielt ihm Brown eine glitzerig gelbe Sherryflasche unter die Nase und sagte kurzweg: „Dies für die zweite Strophe!“ –
Unter den Bäumen begann es wieder schön dreistimmig:
„Der du so viele Engel hast,
Gib einen uns zum lieben Gast,
Und laß ihn Frieden heißen!
Hernach ging es zur dritten Strophe. Aber jetzt lief der Feldwebel her und gebot im Auftrag des Offiziers, sie müßten nun doch aufhören. Sie hätten es ja schön gemacht. Emmet werde zufrieden sein, und auch Sir Ralf Freesh bedankte sich höflichst.
Da reichte ihm der brave Brown mit trockener Miene die zweite Flasche und sprach: „Dies für die nächste Strophe!“ –
Wieder floß der Choral süß und heilig an den alten Bäumen und Mauern empor. Nun aber sprang ein Gemeiner vom Wachtkorps vor und befahl: jetzt müßten sie um jeden Preis fort! Kein Kirchenlied werde über die dritte Strophe hinausgesungen.
„Wir singen auch keine vierte. Nur drei kennen wir auswendig. Aber die erste wiederholen wir noch einmal! Da nehmt!“ – Und die dritte, goldgelbe Sherrybouteille wanderte zum Soldatentrüpplein hinüber.
„O Gott, von deinen Himmeln hoch! Sieh Christus unterm Kreuzesjoch!“ – sang es noch einmal mit wundervoller Inbrunst.
Robert schlief auf der Matte und neben ihm, tief unter dem Arm verkrochen, lag der dicke, kleine, häßliche, aber so liebe Schüttelkopf Harry und hatte die Augen offen und träumte halb und fieberte halb in dieser Kälte und stille. Er zählte die tiefen, festen Atemzüge seines vergötterten Herrn.
„Eins – zwei – drei – vier-, eins – zwei – drei – vier! wie ein Lied fürwahr!“
„Eins – zwei – drei – vier -! wie ein Soldatenschritt im schönen Takt, – nein, ein Generalschritt vorne an der Front, dem Feind, dem Sieg, dem Thron entgegen.“
„Eins – zwei – drei – vier! – wie abgemessene Posaunenstöße am Krönungstag, – Triumph – Triumph – Triumph – Triumph!“
„Lausch, lausch! Woher kommt das ? von oben, von unten, – ein Lied! Gott, sie kommen, da sind sie schon! – Roby, deine Männer, dein Volk, – König, wach auf, wach auf!“
Und Harry schüttelt Robert mit großer, festlicher Wichtigkeit und ruft ihm in die Ohren: „Hurra, König, hörst du´s auch? Sie sind da!“
„Närrchen!“ – lacht Emmet schläfrig, „Dir träumt.“ – Aber da stutzt er schon. „oder träume ich?“ – Er sitzt auf und horcht an die Mauer, während Harry niederkniet und die Hände faltet und betet.
„o Gott, von deinen Himmeln hoch,
Sieh Christus unterm Kreuzesjoch!“
„Christus! Christus!“ lispelt Emmet nachdenklich.
Der Sang verstummte draußen. Ja, das waren seine Freunde. Die lieben, treuen! Aber warum singen sie ihm ein so schleppen süßes Lied? – Er erschauert. Wieder taucht im Dunkel dieser Gruft etwas Großes und Helles auf und wächst wunderbar und spannt göttliche Arme ins Unermeßliche aus. Wieder ist ihm, es wolle ihn jemand Lieder umarmen und ans Herz nehmen. Da fiel er auf die Decke zurück, hielten sich die Augen zu, weinte und schmälte sich aus und ballte zuletzt eine Faust und sagte voll Grimm: „Ach, wie werd´ ich mit solchen Kirchensängern eine Revolution machen können!“
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